Risiken bei der Risikobewertung eines Nanomaterials

17.03.2020

Die Aufnahme von Kohlenstoffnanoröhren in die SIN-Liste („Substitute It Now“) hat Reaktionen von Forschern der Nanomedizin und der Nanotoxikologie provoziert, die eine gerechtere und dem Stand der aktuellen Forschung entsprechende Risikobewertung von Kohlenstoffnanoröhren fordern.

Dr. Anna Lennquist, Senior Toxicologist bei ChemSec, begründet die Massnahme: „Mehrere Studien haben gezeigt, dass Kohlenstoffnanoröhren Lungenkrebs verursachen. Die Röhrchen lösen ähnlich wie Asbest eine Entzündung aus. Es wurden auch reprotoxische Eigenschaften beobachtet. Bisher konzentrierte sich die Debatte über die Sicherheit von Nano auf die Tatsache, dass mehr Forschung erforderlich ist. Hier ist jedoch ein perfektes Beispiel dafür, wo es genügend wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, um zu sagen, dass diese Materialien nicht verwendet werden sollten “.

Kohlenstoffnanoröhren sind eines der am meisten verwendeten und am besten untersuchten Nanomaterialien. Sie wurden erstmals in den 1990er Jahren entwickelt, werden bereits im 100-Tonnen-Massstab produziert und unter anderem zur Herstellung langlebiger, leichter Materialien zur Verbesserung der  elektrischen Leitfähigkeit, als Superschwarzpigment, in konstruktiven Verbundmaterialien und zur Wasserreinigung verwendet.

Die SIN-Liste wurde von der schwedischen gemeinnützigen Organisation ChemSec zusammen mit einem Beirat von Vetretern verschiedener Nichtregierungsorganisationen entwickelt. Sie enthält gefährliche Chemikalien und Nanomaterialien, die nach Ansicht von ChemSec in der EU eingeschränkt oder verboten werden sollten. Die Liste basiert auf den Stoffen, die in REACH (Verordnung über Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe) - dem EU-Rechtsrahmen für Industriechemikalien - als besonders besorgniserregende Stoffe (SVHC) registriert sind. ChemSec nimmt jedoch für sich in Anspruch, bei der Implementierung neuer gefährlicher Substanzen schneller zu sein, indem es die jüngsten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse mit einbezieht und nicht durch die EU-Regulierungsmechanismen verlangsamt wird. Damit will ChemSec Unternehmen, Regulierungsbehörden und Behörden eine geeignete Richtlinie bieten, damit sie den ausschliesslichen Einsatz ungiftiger und sicherer Produkte sicherstellen können (S.F. Hansen und A. Lennquist, Nat. Nanotechnol. 15, 3–4; 2020).

Wie das Editorial der aktuellen Ausgabe von Nature Nanotechnology feststellt, halten jedoch verschiedene Forscher dieses Vorgehen im Zusammenhang mit der Klasse der Kohlenstoff-Nanoröhrchen für zumindest fragwürdig. Sie bemängeln, dass bei der Risikobewertung dieser Substanzgruppe kein Unterschied zwischen single- und multi-walled Carbon Nanotubes gemacht wurde. In zwei Zuschriften derselben Ausgabe wird gefordert, dass Kohlenstoffnanoröhren nicht als eine einzige Art von Material angesehen werden sollten, wie von ChemSec befürwortet, sondern dass sie nach ihren individuellen Merkmalen, Dosierungs- und Expositionswegen gruppiert werden sollten. Um eine faire Risikobewertung von Kohlenstoffnanoröhren zu erreichen, empfehlen beide Gruppen eine detaillierte Bewertung der jüngsten Erkenntnisse über die kurz- und langfristigen Wechselwirkungen der verschiedenen Arten von Kohlenstoffnanoröhren in den richtigen In-vivo-Modellen und die möglichen nachteiligen Auswirkungen im Zusammenhang mit die Anwendungen und Produkte, für die sie entwickelt wurden.

Bei Nanomaterialien sind Risiko- und Toxizitätsbewertungen eine herausfordernde Aufgabe, da biologische und pathologische Auswirkungen durch eine Vielzahl von Parametern wie Größe, Form, chemische Grundstruktur, Ladung und Proteinhülle beeinflusst werden.

Es bleibt die Frage: Reichen die vorliegenden Daten aus für eine effektive Risikobewertung von Nanomaterialien wie Kohlenstoff-Nanoröhrchen? Dies erfordert wohl konzertiertere Anstrengungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft als bis anhin und eine Standardisierung der Berichterstattung in der Nanomedizin und Nanotoxikologie.

(MMo / nano.swiss)

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