Ultraschnelle Kontrolle von Quantenmaterialien
21.10.2021Ein internationales Team mit Beteiligung des Paul Scherrer Instituts PSI zeigt auf, wie Licht die Eigenschaften von Festkörpern grundlegend verändern kann und wie diese Effekte für zukünftige Anwendungen genutzt werden können. Die Fortschritte auf diesem Gebiet, die unter anderem auf Experimenten beruhen, die auch am Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL durchgeführt werden können, fassen die Forschenden im Fachmagazin Reviews of Modern Physics zusammen.
Die Forschenden, darunter Simon Gerber, Leiter der Gruppe Quantum Technologies am Paul Scherrer Institut PSI, beschreiben in einem nun in Reviews of Modern Physics veröffentlichten Artikel, wie Licht die Eigenschaften von Festkörpern grundlegend verändern kann – und wie diese Effekte für zukünftige Anwendungen genutzt werden können. Der Review-Artikel des Teams beschreibt die aktuellen Entwicklungen in der ultraschnellen Materialwissenschaft und ist sowohl als Leitfaden für Studenten gedacht, die in dieses Gebiet einsteigen, als auch als Standardreferenz für die Fachwelt. Beteiligt waren neben dem PSI-Forscher Simon Gerber, Michael Sentef und James McIver vom Max-Planck-Institut für Struktur und Materie in Hamburg sowie Dante Kennes von der RWTH Aachen, Alberto de la Torre (Brown University, USA) und Martin Claassen (University of Pennsylvania, USA). Das Team diskutiert Experimente und theoretische Überlegungen zur Frage, wie Festkörper auf Anregungen mit kurzen Laserpulsen oder die Kopplung von Licht und Materie bei der Bestrahlung mit Licht reagieren.
In der Regel befindet sich ein Material im thermischen Gleichgewicht und unterliegt den Gesetzen der Thermodynamik, bei denen äussere Bedingungen (zum Beispiel: Temperatur, Druck) sein Verhalten vollständig bestimmen. Viele praktische Anwendungen erfordern jedoch nicht nur die Kenntnis des Gleichgewichtszustands eines bestimmten Materials, sondern auch seiner Anregungen. «Wenn wir angeregte Zustände nach Belieben gestalten könnten, würde uns dies neue Anwendungen ermöglichen – zum Beispiel in der ultraschnellen Informationsverarbeitung und -speicherung, der verlustfreien Energieübertragung und der Quantentechnologie», erklärt Simon Gerber.
Wie eine Sekunde im Vergleich zum Alter des Universums
In den letzten Jahren wurden auf dem Gebiet der «Pump-Probe-Experimente» enorme Fortschritte erzielt. Bei diesen Experimenten, wie sie am Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL durchgeführt werden können, versetzt ein kurzer «Pump»-Laserpuls ein Material in einen angeregten Zustand. Durch stroboskopische «Probe»-Messungen werden dann Extrem-Zeitlupenfilme von der folgenden Dynamik erstellt. «Dank der technologischen Entwicklung können die Wissenschaftler nun die Kontrolle über die Elektronen, ihre Spin- und Orbitalfreiheitsgrade und das Kristallgitter der Ionen ausüben», sagt Michael Sentef. «Entscheidend ist, dass wir in der Lage sind, diese kontrollierten Materiezustände mit einer Zeitauflösung von Femtosekunden zu verfolgen.» Eine Femtosekunde ist eine unvorstellbar kleine Zeitspanne. In Relation zu einer Sekunde ist sie das, was eine Sekunde im Vergleich zum Alter des Universums ist.
Um dieses aktive Forschungsgebiet zu untersuchen, bildeten die Wissenschaftler ein Team, dem sowohl Experimentatoren – de la Torre, McIver und Gerber – als auch Theoretiker – Claassen, Kennes und Sentef – angehören. «Wir glauben, dass es äusserst wichtig ist, übergeordnete Konzepte zu identifizieren, wie wir Materialien mit Licht kontrollieren können, um Anwendungen voranzutreiben», sagt Dante Kennes.
Kombination verschiedener Sondierungstechniken
Simon Gerber betont die noch neue Erkenntnis, dass verschiedene Sondierungstechniken kombiniert werden können, um verschiedene Teile eines dynamischen Systems gleichzeitig zu erforschen. «Wenn man ein Material mit einem Laser beschiesst, werden die Elektronen angeregt und die Ionen, die das Kristallgitter bilden, beginnen sich gleichzeitig zu bewegen», erklärt er. «Anders als im thermischen Gleichgewicht, wo immer eine Balance zwischen diesen verschiedenen Bestandteilen eines Systems besteht, kann der Laser diese Balance stören, was zu Nicht-Gleichgewichtszuständen führt, in denen die Energie innerhalb des Materials auf manchmal unerwartete Weise fliesst. Es ist sehr wertvoll, zu erfahren, wie die verschiedenen Teile auf die äussere Anregung, aber auch aufeinander reagieren. So haben wir beispielsweise etwas über die gegenseitigen Kräfte zwischen Elektronen und Ionen gelernt, indem wir ihre Dynamik gleichzeitig beobachtet haben.» Solche neuen Einblicke ebnen den Weg für künftige Arbeiten, fügt Sentef hinzu: «Die gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen es uns zum Beispiel, besser zu verstehen, welche Kräfte Elektronen dazu bringen, einen Supraleiter zu bilden – also Materialien, die Strom ohne Wärmeverluste leiten und fantastische Magnete sind.»
Inspiration durch Verbindung von Theorie und Praxis
«Neue experimentelle Möglichkeiten regen auch theoretische Ideen an, die wiederum die Experimentatoren motivieren, nach Wegen zu suchen, diese Ideen zu verwirklichen», sagt Martin Claassen. «Vor etwa zehn Jahren schlugen Theoretiker beispielsweise vor, mit starken Lichtquellen die Topologie eines Materials zu verändern – eine quantenmechanische Eigenschaft, die zu einem verlustfreien Stromtransport entlang der Oberflächen führen kann, während im Inneren kein Strom fliesst. Dies wird als «Floquet-Engineering» bezeichnet, nach dem französischen Mathematiker, der einen Formalismus zur Beschreibung dynamischer Systeme erfunden hat, die von zeitlich periodischen Kräften angetrieben werden.»
Die resultierenden topologischen Floquet-Zustände wurden erst kürzlich in einem Experiment unter der Leitung von James McIver gemessen. «Hierfür mussten wir ein gänzlich neues Experiment erfinden und bauen», sagt er. «In unserem Review-Artikel betonen wir die Synergien, die entstehen, wenn Theorie und Experiment Hand in Hand gehen. Wir glauben, dass das Feld jetzt reif ist, um den Weg von der Entdeckung neuer Effekte in lasergesteuerten Materialien zur Nutzung dieser Effekte für potenzielle Technologien zu beschreiten.»
Der Schlüssel hierfür ist die wissenschaftliche Zusammenarbeit, fügt de la Torre hinzu: «Durch den Einsatz von Materialwachstumstechniken können wir zum Beispiel Proben mit den gewünschten Gleichgewichts- und Anregungszuständen entwickeln, welche sich dann durch kurze Laserpulse kontrollieren lassen. Dies ist eindeutig eine Teamleistung, die sowohl durch experimentelle Fortschritte als auch durch theoretisches Verständnis vorangetrieben wird. Wir hoffen, dass unser Review-Artikel dazu beitragen kann, eine noch stärkere Gemeinschaft zu bilden und insbesondere junge Forscher für diese wissenschaftliche Reise zu gewinnen.»
Text auf Basis einer Mitteilung des Max-Planck-Instituts für Struktur und Dynamik der Materie
Medienmitteilung: https://www.psi.ch/de/media/forschung/ultraschnelle-kontrolle-von-quantenmaterialien
psi.ch/node/48150
Organisation
Paul Scherrer Institut PSI