Die Macht der inneren Struktur
17.12.2019In Metamaterialien ist nichts wie sonst: Hartes ist plötzlich elastisch, Weiches leitet Signale, und Schall und Licht verhalten sich sonderbar. Solche Design-Materialien haben Eigenschaften, die in der Natur nicht vorkommen.
In dem Keramikwürfel unter dem Mikroskop stecken Superkräfte: Eine Presse quetscht ihn von oben um fast ein Drittel seiner Höhe zusammen. Aber nichts bröselt, bricht oder reisst. Dann lässt sie nach, und der Würfel nimmt seine Ausgangsform wieder an, fast wie ein Schwamm. Die Presse wiederholt das Spiel, der Würfel bleibt intakt. Derart elastisch ist der 0,1 Millimeter kleine Keramikwürfel dank seiner inneren Struktur: Er ist durchzogen von geschwungenen Furchen und Höhlen. Diese sind so angelegt, dass sich die Zugkräfte in keinem Bereich des Würfels konzentrieren können, wenn er gequetscht wird. Denn solche Konzentrationen der Zugkräfte an defekten Stellen, Dellen oder scharfen Ecken der Struktur machen das Material brüchig. Durch die spezielle Höhlenstruktur wird das verhindert, die Keramik wird plötzlich elastisch.
Was ETH-Professor Dennis Kochmann gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom California Institute of Technology in Pasadena entwickelt hat, ist ein Metamaterial. Solche Design-Materialien haben Eigenschaften, die in der Natur nicht vorkommen. Angelegt sind diese Eigenschaften in der mikroskopischen Struktur. Elastische Keramiken sind dabei ein vergleichsweise unspektakuläres Beispiel. Bekannt sind Metamaterialien dafür, dass sich damit die Ausbreitung von Wellen kontrollieren lässt. Forschern ist es etwa gelungen, ein Metamaterial mit negativem Brechungsindex herzustellen. Ein solches bricht Licht oder andere Wellen in die «verkehrte Richtung». Anwendungen sind komplett flache Linsen und theoretisch sogar optische und akustische Tarnkappen. Metamaterialien bergen also auch das Potenzial, Dinge unsichtbar werden zu lassen. Das Feld der Metamaterialien ist noch relativ jung und eine wissenschaftliche Goldgrube. Denn in der Theorie lassen sich Metamaterialien auf fast beliebig viele Eigenschaften hin massschneidern. Wer das Spiel aus geometrischen Formen, Elementen und Materialien beherrscht, dem öffnet sich eine Spielwiese.
Weich und leitfähig
Kochmann und seine Gruppe leisten dabei Grundlagenforschung. Sie loten die Spielwiese aus und verschieben die Grenze dessen, wozu Materialien fähig sind. Vor wenigen Jahren haben sie gezeigt, dass auch weiche Materialien – genauer: Polymere – Wellen transportieren können. Möglich machte dies eine clevere Anordnung des weichen Materials. Die Wissenschaftler verwendeten dafür sogenannt bistabile Elemente: Jedes von ihnen kann zwei Positionen einnehmen, eine gespannte und eine entspannte. Diese Elemente haben sie wie Dominosteine in Serie hintereinander angeordnet und miteinander verbunden. Wird die Struktur an einem Ende angestossen, bewegt sich eine Welle bis ans andere Ende – eben wie bei Dominosteinen. Damit war eine simple Lösung für die Signalübertragung in weichen Materialien gelegt. Die Forschenden hatten eine weiche Alternative zu herkömmlichen Kabeln gefunden. Bedeutend ist dies etwa für die Entwicklung von weichen Robotern.
Aktuell arbeitet Kochmanns Team daran, dasselbe Prinzip nicht nur in einer, sondern in zwei und drei Dimensionen anzuwenden. Damit werden Materialien möglich, die auf einen bestimmten Stimulus ihre Form in zwei oder drei Dimensionen verändern können, ohne auf Antriebe oder Motoren angewiesen zu sein. Allein anhand der Struktur könnten die Forscher den Anfangs- und den Endzustand einer verwandelbaren Form programmieren, darüber hinaus auch Geschwindigkeit und Abfolge der Verwandlung.
Verwandlung auf Knopfdruck
Während diese Materialien mechanisch – im Labor von Hand – angeregt werden, damit sie sich verwandeln, geschieht dies bei anderen bereits elektronisch auf Knopfdruck. Kochmann war an der Entwicklung eines siliziumbeschichteten Metamaterials beteiligt, das elektrochemisch aufgeladen werden kann und dadurch seine Struktur verändert. Im Ausgangszustand sieht es aus wie ein dreidimensionales Gitter, wobei dünne horizontale Stränge dickere vertikale Pfosten verbinden, ähnlich wie in einem Boxring. Wird die Struktur elektrisch aufgeladen, schwellen die horizontalen Stränge an und verbiegen sich zu einem symmetrischen Muster aus entgegengesetzten, sinusähnlichen Bögen. Die Forschenden nutzen dabei einen Effekt, der bei Batterien sonst zu Problemen führen kann: Beim Laden und Entladen schwellen und schrumpfen die Elektroden. Im neuen Metamaterial führt die Schwellung der horizontalen Stränge dazu, dass sich die Struktur grundlegend verändert – und so verharrt, bis die Struktur wieder entladen wird. Den Forschenden ist es damit gelungen, ein schaltbares Metamaterial zu kreieren. Weil es funktioniert wie eine aufladbare Batterie, könnten damit in Zukunft auch mikrometerkleine implantierbare Energiespeicher entwickelt werden.
Darüber hinaus hat Kochmann mit Simulationen eine weitere spannende Eigenschaft nachgewiesen: Ist das Metamaterial verformt (also aufgeladen), können sich darin Wellen in bestimmten Frequenzbereichen nicht ausbreiten. Indem mehr oder weniger Spannung angelegt wird, lassen sich diese Frequenzbereiche verändern. Solche regelbaren Wellenbarrieren könnten auch interessant sein, um Schwingungen in sehr kleinen Bauteilen – wie sie etwa in der Mikroelektronik vorkommen – zu dämpfen, wie Kochmann sagt.
Kreative Suche nach der Struktur
Mit der richtigen Struktur lassen sich Eigenschaften von Materialien also kontrolliert verändern. Bleibt die Frage, wie man aus unzähligen Kombinationen von geometrischen Formen, architektonischen Prinzipien und Basismaterialien das Design findet, das zur gewünschten Eigenschaft führt. Man arbeite daran, Algorithmen und künstliche Intelligenz dafür einzusetzen, den Gestaltungsraum systematisch abzugrasen. Solche Methoden seien aber noch in den Kinderschuhen, sagt Kochmann. «Zurzeit steckt da noch viel Brainstorming dahinter. Wir treffen uns gerne an der Wandtafel und kombinieren aus dem gemeinsamen Repertoire», also aus bekannten Formelementen und ihren Eigenschaften.
Die Basis dafür bildet Kochmanns Spezialgebiet: Simulationen. Ausgehend von der chemischen Zusammensetzung und der Mikrostruktur eines Materials erforscht er deren Eigenschaften, wenn sie bestimmten Einflüssen ausgesetzt werden. Zum Beispiel, wenn sie erhitzt, unter Strom gestellt oder wie beim Keramikwürfel komprimiert werden. Das so gewonnene Wissen über Materialien setzt er ein, wenn er neue Metamaterialien entwickelt.
Werkzeug theoretische Physik
Unterstützung erhält Kochmann auch von Kollegen anderer Disziplinen. Zum Beispiel vom theoretischen Physiker Sebastian Huber. Dieser hat sich unter anderem darauf spezialisiert, Strukturen und Systeme zu entwickeln und zu bauen, die sich verhalten, wie es abstrakte theoretische Konzepte voraussagen. Zum Beispiel ist es ihm gelungen, einen sogenannten topologischen Isolator zu bauen: ein System, bei dem sich Wellen nur auf der Oberfläche und nur in eine Richtung ausbreiten können. Den Effekt, den man vorher nur aus der Quantenphysik kannte, demonstrierte Huber erstmals 2015 mit einem Modell aus 270 quadratisch angeordneten Pendeln. Was Huber mit den Pendeln gelungen ist, macht er auch mit Metamaterialien: Er entwickelt und baut Strukturen, die Effekte zeigen, wie man sie sonst nur in aufwändigen Experimenten beobachten kann. Bei seinen Forschungsarbeiten gehe es immer um die ultimative Kontrolle der Ausbreitung von Schwingungen, sagt Huber.
Mit seinen Metamaterialien übersetzt er die Konzepte der theoretischen Physik in die Welt der Mechanik. Dadurch gibt er Materialforschern wie Dennis Kochmann Werkzeuge an die Hand. Huber macht so neue Denkweisen und Designkonzepte für Materialstrukturen verfügbar. Zugleich – und darüber freut er sich als Physiker fast noch mehr – kann er anhand von Messungen in Experimenten mit seinen Metamaterialien gewisse physikalische Modelle sogar noch verfeinern. Die inneren Strukturen von Metamaterialien sind also der Schlüssel für vieles: vom Verständnis von Zusammenhängen in der Physik bis zur Kreation von neuartigen Materialien mit bisher nicht bekannten Eigenschaften.
Text: Michael Walther / Magazin Globe / ETH Zürich
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